Rainer Maria Rilke
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1875–1926
Rainer Maria Rilke, seine Grabinschrift hatte er selbst für sich ersonnen. Sie lautet: „Rose, oh reiner Widerspruch. Lust, niemandes Schlaf zu sein unter soviel Lidern.“
René Karl Wilhelm Johann Josef Maria Rilke wurde in Prag am 04. Dezember 1875 als einziger Sohn aus einer nicht sehr glücklichen Ehe geboren. Die Mutter Sophie („Phia“) stammte aus gehobenen gesellschaftlichen Verhältnissen, der Vater war Eisenbahnbeamter. Er konnte die Anforderungen und Wünsche seiner Gemahlin nie erfüllen, und die Ehe ging nach elf Jahren in die Brüche. Rilkes wachsender Ruhm überstieg später sogar den Erfolg, nach dem sich die Mutter stets gesehnt hatte. Sein Briefwechsel mit vornehmen Adelsgeschlechtern Europas war der Ausgangspunkt für Einladungen auf Schlösser und in Familien der gesellschaftlichen Oberschicht. So kam es, dass Rilke immer nur vorübergehend seßhaft war. Immer dann, wenn er seine Einsamkeit bedrohr fühlte, reiste er wieder ab. Die gesellschaftliche Ordnung dieser Zeit erlaubte ihm eine solche Lebensführung, die heutzutage kaum möglich wäre.
Die Kadettenerziehung an zwei Militärschulen registrierte Rilke mit Entsetzen. Er fühlte sich dort körperlich und geistig mißbraucht. Sein erster Gedichtband von 1894 hieß Leben und Lieder, in dem er Figuren der Geschichte und von Sagen besingt. Auf seinem schriftstellerischen Weg wurde er von Detlev von Liliencron und dem Dänen Jens Peter Jacobsen ermutigt und unterstützt. Mit Lou Andreas-Salomé betrat eine für ihn wesentliche Begleiterin seinen Lebensweg, um deren Hand Friedrich Wilhelm Nietzsche vergeblich angehalten hatte. Die vierzehn Jahre ältere Gefährtin stammte aus dem russischen Sankt Petersburg. Sie ist in Rilkes Aufzeichnungen gemeint, wenn er schreibt „... lösch mir die Augen aus: ich kann dich sehen, wirf mir die Ohren zu: ich kann dich hören ...!“ Nach einer Italienreise (Florenzer Tagebuch) folgte 1899 die erste Rußlandreise Rilkes mit dem Ehepaar Andreas, also zu dritt. Moskau und der Besuch des 71-jährigen Dichters Leo Tolstoj stellten die Höhepunkte der Reise dar, der eine zweite Rußlandfahrt mit Lou 1900 folgte. Russische Geschichte und Kunst, nicht zuletzt die Ikonenkunst, das Erlebnis der Frömmigkeit des russischen Volkes waren für ihn überwältigend. Mit der Kerze in der Hand nahm er selber an religiösen Prozessionen teil. Es folgten Tage auf dem Dorf, dann wieder Moskau und ein Besuch bei dem Bauerndichter Spiridon Droschin und dessen Gutsherrn, dem Grafen Nikolaj Tolstoj .
Das Gefühl für Heimat empfand der Dichter nach eigenem Bekunden weder in Prag, noch in München oder Berlin, wohl aber in Rußland. „Was ich bisher sah, war nur ein Bild von Land und Fluß und Welt. Hier aber ist alles selbst. Mir ist, als hätte ich der Schöpfung zugesehen“, notiert er in der Petersburger Aufzeichnung. Rilke übersetzt in diesen jahren Tschechow, einiges von Dostojewski und Lermontov. Dann wird auch Paris ab 1902 für ihn zur Basis seiner dichterisch-gestalterischen Entwicklung. Zwischen Rußland und Paris liegt für ihn die Zeit in der Künstlerkolonie Worpswede. Rilke wird mit der jungen Clara Westhoff Vater des einzigen Kindes Ruth. Neben Clara, Plastikerin und Schülerein Rodins in Paris , gehören zum Freundeskreis vor allem die blonde Malerin Paula Becker und der Maler Heinrich Vogeler. Hier in Worpswede, dem Land der Landschaftsmalerei zwischen Moor, Heide und Himmel, wurden die Abende oft sehr lang. Man erzählte „vom Leben und von der Schönheit in allem Erleben, vom Sterbenkönnen und Sterbenwollen, von der Ewigkeit und warum wir uns Ewigem verwandt fühlen“ (Rilke). An die blonde Malerin Paula Becker, später verheiratet mit Modersohn, schreibt er: „Ich darf kein Häuschen haben, darf noch nicht wohnen. Wandern und Warten ist meines.“ Der eigene Hausstand mit Clara und Töchterchen Ruth hält nicht lange. Ruth kommt bereits (1902) nach einem Jahr nach Bremen zu den Großeltern Westhoff. Rilke und Clara gehen wieder nach Paris zu Rodin.
Sein höchster literarischer Erfolg wird insgesamt Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke, nur vierzehn Druckseiten umfassend. „Es ist das unvermutete Geschenk einer einzigen Nacht, in einem Zuge hingeschrieben.“ Generationen von Heranwachsenden grieten in Stürme der Rührung und Begeisterung. 1912 begann dieser Siegeszug des Cornets aus dem Insel-Verlag. Das Stunden-Buch ist aber das lyrische Hauptwerk. Es folgen die Duineser Elegien und die Sonette an Orpheus.
Leben war eine Lieblingsvokabel für empfindsame Gemüter der Jahrhundertwende. Für Rilke bedeutet „Leben stets das namenlose, die pure, unaussprechliche Fühlbarkeit der tausendgestaltigen Welt“ und drängt nach einem alles erschöpfenden Inbegriff, und das Wort ist kein geringeres als der Name Gottes. Die Gottesidee Rilkes: Gott ist ein Werdender. Seine Existenz gründet sich auf die fühlende und entwerfende Leistung einzelner menschlicher Wesen. Es heiß im Florenzer Tagebuch „Gott ist das älteste Kunstwerk. Es ist schlecht erhalten, und viele Teile sind später ergänzt.“ „Wer lebt es denn? Lebst Du es, Gott, das Leben?“ Seine Mängel, seine Ungerechtigkeit und alles Unzulängliche seiner Macht liegt in seiner Entwicklung. Er ist nicht vollendet. Wann sollte er auch geworden sein? Der Mensch bedurfte seiner so dringend, dass er Ihn gleich von Anfang als Seienden empfand und sah. Fertig brauchte Ihn der Mensch , und er sagte: Gott ist! Jetzt muss Er sein Werden nachholen, und wir sind, die Ihm dazu helfen. Mit uns wird Er, mit unseren Freuden wächst Er, und unsere Traurigkeiten begründen die Schatten in Seinem Angesicht.“
Auch die Abneigung Rilkes gegen die Gestalt Christi findet hier schon ihren Ausdruck: „Für junge Menschen ist Christus eine große Gefahr, der Allzunahe, der Verdecker Gottes. Sie gewöhnen sich daran, mit den Maßen des Menschlichen Göttliches zu suchen. Sie irren zwischen Christus, den Marien und den Heiligen umher, sie verlieren sich unter Gestalten und Stimmen. Sie bescheiden sich und müßten unbescheiden sein, um Gott zu haben.“
Rilke präsentiert sich dem Leser in der Rolle eines jungen Mönches, als er schreibt:
Ich kreise um Gott, um den uralten Turm, und ich kreise jahrtausendelang, und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm oder ein großer Gesang.
Das eigene Reifen zu einer ersten dichterischen Vollmacht (Ich fühle – ich kann.) wird als ein Reifen Gottes ausgelegt, Gott wird wie ein Kunstwerk von der Fühl- und Einbildungskraft zahlreicher Generationen von Ergriffenen geschaffen:
„Werkleute sind wir: Knappen, Jünger, Meister,
und bauen dich, du hohes Mittelschiff.
Und manchmal kommt ein ernster Hergereister,
geht wie ein Glanz durch unsre hundert Geister
und zeigt uns zitternd einen neuen Griff“.
(R. M. Rilke)
1906 sitzt Rilke der Freundin Paula Modersohn Modell. Das Portrait, ein Meisterwerk expressionistischer Malerei , sollte nicht ganz vollendet werden.
Am 20. November ist Paula Becker, 31-jährig, an der Geburt ihres einzigen Kindes gestorben.
Hans Egon Holthusen schreibt in seiner Rilke-Biographie: Die Hauptmotive der Rilkeschen Lebenslehre, beinahe zu Dogmen verfestigt, vor allem die Botschaft vom eigenen Tode und die Lehre von der enormen, alles Männliche weit hinter sich lassenden Fühlkraft der Frau. Die Tragödie dieses wie jedes großen Frauenlebens sieht der Dichter in der Unzulänglichkeit des Mannes, der wie ein groteskes, aber verhängnisvolles Hindernis am Rande der weiblichen Bahn steht. Ein Ethos der nicht-besitzergreifenden Liebe wird formuliert, einer Liebe, die um der Perfektion des Fühlens willen auf denjenigen verzichten muss, der eben dieses Fühlen erregt hat:
„Denn da ist Schuld, wenn irgendeines Schuld ist: die Freiheit eines Lieben nicht vermehren um alle Freiheit, die man in sich aufbringt. Wir haben, wo wir lieben, ja nur dies: einander lassen, denn dass wir uns halten, das fällt uns leicht und ist nicht erst zu lernen.“
12 Jahre ist Paris für Rilke das geographische Zentrum seines Lebens. Für Jahre ist Rodin für den Dichter das bewunderte Vorbild gewesen. Er war für ihn das Nonplusultra an schöpferischer Lebenskraft. Rilkes angegriffene Gesundheit führt ihn ans Meer, wo in Viareggio der dritte Teil von Das Stunden-Buch entsteht: Das Buch von der Armut und vom Tode. Er schreibt es in acht Tagen.
Was in den beiden ersten Teilen „Gott“ hieß, „der Dinge tiefer Inbegriff“, das wird jetzt in der Angst und im Elend gefunden. Alle Attribute menschlicher Not werden auf den heiligen Namen gehäuft. Es ist wahrhaft eine Hommage an Franz von Assisi . Hier wird nicht Erlösung vom Übel, sondern Hingabe an das Übel gepredigt. Darum wird Christus mit Stillschweigen übergangen. Franz wird als der Armut großer Abendstern gefeiert.
1925: Nach einer vergeblichen Kur seines Leidens in Ragaz im September, dessen Diagnose lange Zeit nicht feststand, wieder nach Muzot zurückgekehrt. Er fühlt sich nicht wohl, klagt über ständige körperliche Mißstände.
1926: Am 30. November muss er sich wieder nach Valmont (bei Montreux) begeben, diesmal in schwerkrankem Zustand, als ein vom Tode Gezeichneter. Endlich erkennt man den Charakter seines Leidens: eine seltene Form von unheilbarer Leukämie. In seinem Testament legt er den Ort fest, wo er bestattet sein wollte: „Ich zöge es vor, auf dem hochgelegenen Kirchhof neben der alten Kirche zu Rarogne zur Erde gebracht zu sein, wo ich Wind und Licht dieser Landschaft empfangen habe“.
Am 29. Dezember war das Ende gekommen. Der Mann, der wie kein anderer vor ihm und nach ihm den reinen Dichter zu verkörpern schien, war verschieden.
Am 02. Januar 1927 wurde Rainer Maria Rilke wie gewünscht auf dem Burghügel über der Rhone zu Grabe getragen.
Aus den zahlreichen Nachrufen greifen wir zwei heraus:
Rudolf Musil: „R. M. Rilke war schlecht für diese Zeit geeignet. Dieser große Lyriker hat nichts getan, als dass er das deutsche Gedicht zum erstenmal vollkommen gemacht hat; er war kein Gipfel dieser Zeit, er war eine der Erhöhungen, auf welchen das Schicksal des Geistes über Zeiten wegschreitet. Er gehört zu den Jahrhundertzusammenhängen der deutschen Dichtung, nicht zu denen des Tages.“ (Aus der Rede zur Rilke-Feier in Berlin, 1927).
Gottfried Benn: „Diese dürftige Gestalt und Born großer Lyrik, verschieden an Weißblütigkeit, gebettet zwischen die bronzenen Hügel des Rhonetals unter eine Erde, über die französische Laute wehn“, schrieb den Vers, den meine Generation nie vergessen wird: „Wer spricht von Siegen – Überstehn ist alles.“ (Ausdruckswelt, 1949)
Weblinks
- Wikipedia: Rainer Maria Rilke