Maler und Schriftsteller

Maurice Utrillo

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M. Utrillo: Sacré coeur de Montmartre und die Anlagen St. Pierre, 1928.
M. Utrillo: Sacré coeur de Montmartre und die Anlagen St. Pierre, 1928.

Maurice Utrillo

1875-1955

Maurice Utrillo, geb. in Paris , gest. in Dax, Maler. Sohn eines spanischen Vaters und der Malerin Suzanne Valadon.

Weder der eine noch der andere vermochte sich an diese Welt anzupassen, weder Vincent van Gogh  noch Maurice Utrillo.

Zwischen den Straßen der Rue Rustique, Rue Norvins und Rue des Saules bildet der Carrefour das Herzstück des Montmartre . Auf den ersten Blick scheinen die Mauern schmutzig, jedenfalls ungepflegt. In den Augen des Malers waren sie faszinierend, funkelnd vom Leben der Vorangegangenen. In seiner späten Zeit als Maler mischte er von diesen Mauern Spuren von Mörtel, Sand oder Gips in seine Farben. Akazienbäume verbergen das Cabaret „Lapin Agile“ wie unverändert seit der Jahrhundertwende. Der Chansonnier Aristide Bruant hat sie im „Chat noir“ besungen, die trostlos endlosen Mauern der Rue Vincent, und Maurice hat sie gemalt. Er sollte auch ganz in der Nähe auf dem Cimetière seine letzte Ruhestätte finden, denn der Montmartre , Berg der Märtyrer, war seine Heimat. Augenzeugen berichten vom Leben dieses Mannes. Edmont Heuzé schreibt: „Sein Leben war die Geschichte eines sanften, empfindlichen Herzens, das sich gänzlich unvermittelt einer lebenslangen schrecklichen Einsamkeit ausgeliefert fand.“

 

Vincent van Gogh, Vue de Montmartre Kunstmuseum Basel.
Vincent van Gogh, Vue de Montmartre Kunstmuseum Basel.

Neben den Malern und Cabarets war es eben dieser Aristide Bruant, der den Montmartre  zu einer Attraktion machte. Toulouse-Lautrec  bildete ihn auf seinen lithographischen Tafeln ab. Selbst der Adel gab sich unter allen Touristen hier die Ehre. Die Prominenz aber wurde von Bruant nicht hofiert. Er behandelte sie nicht selten knallhart, ja sogar ätzend. In schriftlichen Belegen kann man sie nachlesen, diese harten und dennoch melancholischen Lieder. „Je cherche fortune, autour du chat noir, au clair de la lune, à Montmartre , le soir.“

Die Scheinwelt der leichten Mädchen, der Diebe und Raufbolde hat er beschrieben als eigene erlebte Beobachtungen. Zitiert wurde er z.B. so: „Frierende Vagabunden, die sich unter den argwöhnischen Blicken der Polizei am Kohlenbecken einer Baustelle aufwärmen; finstere Rowdys, auf der Lauer in dunklen Torwegen – alles mehr oder weniger gefährliche Mitspieler in einer erbärmlichen Tragödie von armen Teufeln, die geboren werden, sich zu vermehren, herumstreunen, um dann in den Elendsquartieren, in Drecklöchern oder irgendwelchen düsteren Straßenecken dieser verdammten Städte zu krepieren, schon durch ihre Geburt sind sie zu jeder Gemeinheit, ja zum Verbrechen verdammt.“ Auch Maurice streifte schon in frühesten Jahren hier herum, manchmal Tag und Nacht, mit dem Alkohol bereits verbrüdert. Und doch muss er dieses trostlose Chaos begonnen haben zu lieben, es ließ ihn nicht mehr los. Das Elendsleben zwischen Kneipenaufenthalten, Polizeigefängnis oder Hospital und Zwangsinternierungen, zuletzt Einweisungen in die Trinkerheilanstalt (beim ersten Mal war er siebzehn) wurde zu einem ständig sich drehenden Kreisel, der kein Ende zu haben schien. Die Mutter war praktisch ebenso verzweifelt wie machtlos, wenn er mal wieder, vom Pöbel verspottet, mißhandelt, ausgeplündert oder zusammengeschlagen nach Hause kam. Ein reiner Teufelskreis im Banne seiner Sucht. „Das Zinkweiß macht mich durstig“, konnte er später als Malender entschuldigend anführen, aber dieser Durst schaut in der Tat aus seinen Bildern, die ohne das Zinkweiß allerdings nicht denkbar sind.

 

A. Utter, Portrait Maurice Utrillo, 1910.
A. Utter, Portrait Maurice Utrillo, 1910.

In seiner Geburtsurkunde fehlt der Name Utrillo. Wer ihrem Sohn diesen Namen gab, ist bekannt. Im Januar 1891 erschien der spanisch-katalanische Maler, Kunstschriftsteller, Archäologe, Architekt und Ingenieur Miguel Utrillo y Molins (1862–1934) vor dem Standesbeamten und gab dort zu Protokoll, er sei der Vater des am 25. Dezember 1883 geborenen unehelichen Sohnes. Der Junge, inzwischen 7 Jahre alt, solle von nun an seinen Vaternamen tragen: Maurice Utrillo. Suzanne Valadon, die Mutter, war schon früh eine meisterhafte Malerin, profitierte sehr vom Interesse Auguste Renoirs, der sie häufiger gemalt hat und sie förderte, von der Bekanntschaft Toulouse-Lautrecs, der die Melancholie ihrer Augen nach eigenem Geständnis so sehr bewunderte. Ebenso kannte sie Gauguin und van Gogh. Darüber hinaus galt sie als durchaus lebenslustig und liebeshungrig. Von Edgar Degas, der sie in graphischen Techniken und im Zeichen unterwies, wurde sie liebevoll terrible Maria genannt, und dies war schon ein hohes Lob. Diese Valadon heiratete zweimal: Paul Mousis, einen reichen Kaufmann, in dessen Landhaus der junge Maurice keine leichte Zeit hatte, da er für den Stiefvater ein ungebetener Gast war. 1896 in ein Internat gegeben, geht dies nicht lange gut. Die Einsamkeit des Jungen wird immer größer, treibt ihn immer mehr dem Retter Alkohol in die Arme. Eine Banklehre dauert nur einige Monate. Zu oft läßt die Mutter ihn –ohne es zu wollen – herumvagabundieren und sich in allen Kneipen der Gegend betrinken. Ein gewisser Francis Carco hat diese Stadien des Lebens von Utrillo in einem erschütternden Buch aufgezeichnet. Maurice zeigt keinerlei Interesse an irgendeiner Tätigkeit, erlebt psychische Krisen von völligem Stumpfsinn bis zu wahnsinnsähnlichen Anfällen. Bei solchen Anfällen allein kann er richtig ausrasten und laut werden. Dann ist er völlig enthemmt. Das Malergenie aber ist völlig verschüttet.

 

M. Utrillo, Rue du Mont-Cenis 1914, Louvre Paris.
M. Utrillo, Rue du Mont-Cenis 1914, Louvre Paris.

Nun ereignet sich ein rätselhaftes Phänomen. Von der Mutter zum Zeichnen und Malen gezwungen, und dies mehr als Beschäftigungstherapie, beginnt der 20-Jährige mit dem Pinsel zu experimentieren, und sofort entstehen Werke von meisterhafter Originalität, intensiver Kraft und Eigenart. Die vorangegangenen zwanzig Jahre eines Lebens, das nach öffentlicher Meinung ein reines Luderleben war, hatte nicht diese unerklärliche Kraft plötzlicher beseelter Meisterschaft verhindern oder vernichten können. „Unvorstellbar ist einfach, dass dieser Maler wider Willen fast ohne Zögern über die Ausdrucksmittel eines der großen Meister verfügt“, schreibt Pierre Courthion in seiner herrlichen Utrillo-Biographie, die zu den besten Schilderungen dieses Genies zählt.

„Seine Geschwindigkeit war einfach ein Wunder“, berichtet Francis Carco, „in wenigen Stunden hatte er ein Bild auf die Leinwand geworfen, als hätte ihn eine Zauberhand gelenkt. Zwischen 1902 und 1904 malt er etwa 150 Bilder. Sie alle haben nichts gemein mit allem, was man zuvor von irgendeinem anderen Maler gesehen hatte. Nach 1907 hellt sich die zunächst dunkle Palette merklich auf, und man kann schon von der sogenannten weißen Epoche sprechen. Vom Alkohol befreit ihn das Malen allerdings nicht. Er war ein Kind dieser Straßen, die er vornehmlich nachts aufsuchte, in denen er alles Banale und Armselige kraft seiner reinen Kinderseele in lauter Köstlichkeiten verwandeln konnte.“

„Er, der nächtliche Wanderer, ist als Maler des Montmartre  zur Stimme aller Namenlosen geworden, deren Stimmen dort ungehört verhallen.“

 

M. Utrillo, Le Lapin Agile sous la neige 1937, Privatsammlung Paris.
M. Utrillo, Le Lapin Agile sous la neige 1937, Privatsammlung Paris.

Dauerte die „weiße Epoche“ etwa von 1907 bis1914, begann die farbige Epoche um 1920. Erste größere Erfolge verzeichnet Utrillo ab 1920/21 und ermöglichen den Erwerb des Chateau Saint-Bernard im Lyonnais, wo er bis 1934 jeden Sommer verbringt. Zusammen mit der Mutter und deren zweitem Ehemann, dem Maler André Utter, läßt er sich sein erstes Montmartre-Atelier bauen: eine Villa in der Avenue Junot. Auf einer Auktion im selben Jahr erzielt seine L’Église Saint-Séverin den phantastischen Preis von 50.000 Francs. 1928 erweist sich auch der Staat erkenntlich und ernennt den 45-Jährigen zum Ritter  der Ehrenlegion. Nach insgesamt elf (!) Aufenthalten in Heilanstalten und häufigen Verhaftungen – vor allem 1912 – bringt seine Heirat 1935 ein Ende der Streifzüge durch die Straßen von Paris . Seine bonne Lucie ist Lucie Valore, wohnhaft im eleganten Pariser Vorort Le Vésinet, die ihn mit umsichtiger Energie beschützt. Sie bringt auch einen tüchtigen Kunsthändler mit, dem die Exklusivrechte am Gesamtwerk Utrillos übertragen werden. Es folgen nun jährliche Ausstellungen in der Galerie Pétridès mit neuen Bildern: 1938 vierzig, 1939 dreißig Bilder und so fort. Aber „seit ihm der Gottesdienst zur frommen Gewohnheit wurde, konnte er Kirchen nicht mehr mit der einstigen Inbrunst malen“, schreibt Courthion, und er fährt fort: „Suzanne Valadon war drei Jahre nach seinem Einzug in die Villa „La Bonne Lucie“ voller Trauer und Verzweiflung gestorben. Sie war ihrem Sohn niemals so etwas wie eine ideale Mutter gewesen. Aber sie haben sich beide auf ihre Art verehrt, geliebt und zutiefst verstanden. War Lucie Valore sein wirklicher Schutzengel?“

 

S. Valadon, Porträt Miguel Utrillo, 1891, Kreidezeichnung.
S. Valadon, Porträt Miguel Utrillo, 1891, Kreidezeichnung.

Wer dies war, hat Utrillo selbst Francis Carco anvertraut: „Komm herein!“, empfing er den Besucher in Vésinet auf der Türschwelle. „Ich werde dir meinen Schutzengel zeigen!“ Mit diesen Worten wies er auf ein lebensgroßes Foto von Suzanne Valadon. „Es ist wunderbar, sie immer vor mir zu haben, immer ganz nahe bei mir!“ Sie war ihm tatsächlich zur Verkörperung all dessen geworden, was für ihn im Innersten bedeutungsvoll war. Der Montmartre  war auch seine Mutter, seine Seele, sein Kosmos.

Wir müssen Maurice Utrillo diese ausführliche Darstellung widmen. Er gehörte zu den im Leben Unterdrückten, die sich selbst zur Umwelt in Worten gar nicht äußern. Er gab seine Lebensphilosophie auf eine unverwechselbare Art kund, durch seine Malerei . Auf seine Art gehört er zu den Weisen.

 

Rue Lepic et le Moulin de la Galette, Galerie Pétridès, Paris.
Rue Lepic et le Moulin de la Galette, Galerie Pétridès, Paris.

 



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